Neuberechnete Startgutschriften sind unwirksam, Reichweite des Piloturteils des Bundesgerichtshofs

1. Reichweite des Piloturteils

Wie bereits mitgeteilt hat der Bundesgerichtshof in den von unserer Rechtsanwaltssozietät geführten Pilotverfahren die geänderte Startgutschriftenregelung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) für rentenferne Versicherte wie die vormalige Regelung durch Urteil vom 09.03.2016 ebenfalls für unwirksam erklärt.

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat beanstandet, dass diese im Urteil vom 14.11.2007 festgestellte Ungleichbehandlung auch durch die Neuregelung der Satzung für eine Vielzahl rentenferner Versicherter nicht beseitigt werden.

Die erneut verfassungswidrigen Neuregelungen der Tarifvertragsparteien zur Startgutschrift wurden – obwohl eine eigene verfassungsrechtliche Prüfungspflicht bestand – im Wesentlichen von allen Zusatzversorgungskassen übernommen.

Die Entscheidung des Bundesgerichthofs bestätigt deshalb, dass die neuberechneten Startgutschriften aller Zusatzversorgungskassen von Anfang an verfassungswidrig waren.

 

2. Urteilsanalyse, aktueller Rechtsstand

Die Urteilsausfertigung der Pilotentscheidung des Bundesgerichtshofs liegt zwischenzeitlich vor.

Der Bundesgerichtshof hat mit erfreulicher Deutlichkeit den Grundrechtsverstoß in den von den Tarifvertragsparteien und den Zusatzversorgungskassen generierten Neuregelungen zur Startgutschrift erkannt und die neuen Regelungen zu Recht für unverbindlich/verfassungswidrig erklärt.

Wegweisende Hinweise zum aktuellen Rechtszustand können den Ausführungen des Bundesgerichtshofs indessen bislang bedauerlicherweise – noch – nicht entnommen werden. Die Urteilsgründe beschränken sich auf die Feststellung der Unwirksamkeit der neuberechneten Startgutschriften. Konkrete Feststellungen, welche Regelungen  nunmehr gelten, lassen sich aus den Urteilsgründen direkt nicht entnehmen.

Vor dem Bundesgerichtshof schweben allerdings noch Verfahren, in welchen beantragt wurde, dass wegen der Verfassungswidrigkeit der Neuregelungen unverändert die vor der Systemumstellung geltenden Satzungsregelungen Anwendung finden. Diese Rechtsauffassung erachten wir als zutreffend. Wir sind der Rechtsauffassung, dass die früheren Satzungsregelungen Bestand haben, solange keine rechtmäßigen neuen Satzungsregelungen generiert sind.

Dieser Grundsatz sehen wir auch im Tarifvertragsrecht. Ein früherer Tarifvertrag behält seine Wirksamkeit, solange ein rechtswirksamer neuer Tarifvertrag nicht zustande gekommen ist.

Es ist indessen – unseres Erachtens bedauerlicherweise – anzunehmen, dass der Bundesgerichtshof erneut den Tarifvertragsparteien Gelegenheit geben wird, eine verfassungskonforme Regelung der Transfervorschriften/Startgutschriften herbeizuführen.

 

3. Abwicklung der rechtshängigen Verfahren

Die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) sowie die Bayerische Versorgungskammer (BVK) haben im Hinblick auf die Pilotentscheidung des Bundesgerichtshofs begonnen, die von ihnen eingelegten Revisionen zum Bundesgerichtshof zurückzunehmen.

In den Vorinstanzen ruhende Verfahren haben wir für unsere Mandanten wieder angerufen. Die Zusatzversorgungskassen haben teilweise unseren Klagantrag anerkannt, teilweise im anhängigen Verfahren die neuberechnete Startgutschrift für unverbindlich erklärt und damit die verlangte Unverbindlichkeitserklärung nunmehr abgegeben. Letzteres führte prozessual notwendig zur Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Zur Zeit wickeln wir sämtliche rechtshängigen Verfahren einschließlich der Kostenerstattung für unsere Mandanten ab. Wir werden unseren Mandanten nach erfolgtem Gesamtabschluss einschließlich der Kostenabwicklung einen Gesamtbericht erteilen.

Im Hinblick auf die Vielzahl der gerichtlichen Verfahren und Terminierungen wird diese Abwicklung voraussichtlich noch die Sommermonate in Anspruch nehmen.

 

4. Gebotene weitere außergerichtliche Schritte

Die Zusatzversorgungskassen haben zwischenzeitlich außergerichtlich weitgehend auf Abmahnung die Unverbindlichkeit der neu berechneten Startgutschriften erklärt. Wir werden indessen noch weitere entsprechende Abmahnungen ausbringen.

Es bleibt dringlich zu empfehlen, dass alle Versicherten eine klare Erklärung der Zusatzversorgungskassen zur Unverbindlichkeit der neuberechneten Startgutschriften sowie zur Unverbindlichkeit der darauf stützenden Folgebescheide, insbesondere der Betriebsrentenbescheide, einholen.

 

5. Anspruch auf Justizgewährung, Neue Bescheide

Zu welchem Zeitpunkt neue Bescheide der Zusatzversorgungskassen ergehen, vermögen wir von hieraus nicht gesichert vorher zu sagen. Wenn der Bundesgerichtshof zur Auffassung gerät, dass den Tarifvertragsparteien nochmals Gelegenheit zur Nachbesserung eingeräumt werden muss, muss leider bis zur Vorlage neuer Bescheide mit einem gewissen Zeitraum gerechnet werden.

Wir sehen diesen Sachverhalt allerdings rechtlich als im Höchstmaße problematisch an, da die rentenfernen Versicherten nunmehr seit 01.01.2002, somit seit über 14 Jahren, auf eine verfassungskonformen Transfer ihrer Rentenanwartschaften nach der Systemumstellung warten.

Diesen Zustand erachten wir rechtsstaatlich als äußerst bedenklich. Er verletzt u.E. bereits jetzt den Anspruch der Versicherten auf Justizgewährung.

Es kann auch nicht sein, dass die rentenfernen Versicherten nunmehr etwa erneut jahrelang zuwarten sollen, bis die Tarifvertragsparteien sich bequemen, verfassungskonforme Regelungen zur Startgutschrift zu generieren. Ebenso wenig kann es sein, dass die Zusatzversorgungskassen sich dann erneut rund zwei Jahre Zeit lassen, ehe sie die Regelungen in ihre Satzungen übernehmen und ihren Versicherten neue Bescheide zukommen lassen.

Ein Hoffnungsansatz sind die obiter dictum Ausführungen des Oberlandesgerichts Karlsruhe in den ergangenen Berufungsentscheidungen. Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat ausgeführt (Schwärzungen vom Unterzeichner):

„Der verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf Justizgewährung, der im Sinne praktischer Konkordanz mit der durch Artikel 9 Absatz 3 GG geschützten Tarifautonomie zum Ausgleich zu bringen ist (BGHZ 174, 127, Tz. 143), gebietet eine gerichtlich gestaltende Regelung des Übergangsrechts - noch - nicht.

Die Tarifvertragsparteien haben weiterhin verschiedene Möglichkeiten, die Ungleichbehandlung von Versicherten mit längeren Ausbildungszeiten bei der Berechnung der Startgutschriften auszugleichen. Es ist - noch - nicht geboten, in deren Auswahlermessen etwa dadurch einzugreifen, dass eine individuelle Berechnung der Startgutschrift unter konkreter Berücksichtigung von Ausbildungszeiten ohne Pauschalierungsmöglichkeiten angeordnet wird.

Zwar ist seit der Systemumstellung mittlerweile so viel Zeit vergangen, dass von „rentenfernen" Personen nur noch mit Blick auf den rechtlich allerdings maßgeblichen Stichtag der Systemumstellung gesprochen werden kann. Angesichts der Komplexität der Materie, der finanziellen Auswirkungen der Neuregelung und der Anzahl möglicher Neuregelungen kann aber eine gestaltende gerichtliche Neuregelung nicht vorgenommen werden.

Eine dritte Nachbesserungsmöglichkeit der Tarifvertragsparteien oder eine nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss erneute mehrjährige Prüfungsphase bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung müssten die Versicherten indes nicht hinnehmen.“

 

Diese Wegweisung wird den Zusatzversorgungskassen im Weiteren zu verdeutlichen sein.

 

Die Zusatzversorgungskassen müssen erkennen, dass sie erneute rechtliche Auseinandersetzungen  riskieren, sollten sie erneut die Generierung verfassungskonformer Regelungen und/oder den Erlass verfassungskonformer neuen Bescheiden ungebührlich verzögern.

 

Karlsruhe, den 19.05.2016

Valentin Heckert
Rechtsanwalt

 

Rechtsanwälte Valentin Heckert, Harriet Schäfer-Heckert,
Wolfgang Andreas Klohe, Evelyn Wettstein, Martin Blaszczak, Matthias Müller

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