Problematische weitere Vereinbarung der Tarifparteien zur Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

1.
Die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes hatten sich bekanntlich am 13.11.2001 im Altersvorsorgeplan 2001 auf einen Systemwechsel geeinigt. Die Einzelheiten wurden im Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag Altersversorgung - ATV) vom 03.01.2002 vereinbart.

Danach stellten die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) sowie andere Zusatzversorgungskassen ihr Zusatzversorgungssystem mit Ablauf des 31.12.2001  von einer an der Beamtenversorgung orientierten Gesamtversorgung auf ein auf die Verzinsung von Beiträgen ausgerichtetes Punktemodell um. Danach errechnet sich die bei Eintritt des Versicherungsfalls zu leistende Betriebsrente aus der Summe der erworbenen Versorgungspunkte. Zu dem genannten Stichtag wurden die Werte der bereits erlangten Rentenanwartschaften festgestellt und als so genannte Startgutschriften auf die neuen Versorgungskonten übertragen.

Die Reform der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst unterscheidet zwischen zwei Gruppen, nämlich einmal den sog. "rentennahen" Geburtsjahrgängen (1936 - 1946) und zum anderen den "rentenfernen" Geburtsjahrgängen (1947 und jünger).

In Ausnahmefällen (Erwerbsminderungsrente, Schwerbehinderung, Altersteilzeit) wurden
gewisse Gruppen der "Rentenfernen" auch als fiktiv rentennah behandelt.

2.
Der Bundesgerichtshof hat durch Urteil vom 14.11.2007 die den rentenfern Versicherten erteilten Startgutschriften für verfassungswidrig erklärt. Er hat die Tarifparteien aufgefordert, eine verfassungskonforme Neuregelung herbeizuführen.

3.
Die Tarifparteien teilen nunmehr mit, dass sie sich am 30.05.2011 auf eine solche Neuregelung - 5. Änderungsvertrag zum Altersvorsorge- TV - geeinigt hätten.

Diese ergänzende Einigung der Tarifparteien wird von den Gewerkschaften weitgehend als großer Erfolg für die Arbeitnehmer dargestellt. Die ursprüngliche Forderung der Arbeitgeber, die Grundlagen des Punktemodells und das Niveau der Zusatzversorgung insgesamt in Frage zu stellen, sei von den Gewerkschaften erfolgreich abgewehrt worden. Die neuen Regelungen seien rechtssicher.

Tatsächlich halten nach hiesiger Auffassung die neuerlichen Tarifvereinbarungen einer rechtskritischen Überprüfung in keiner Weise stand.

Wir werden hierzu ergänzend berichten, vorab sei folgendes ausgeführt:

a. Keine kritische Überprüfung des sogenannten Näherungsverfahrens

Die Tarifparteien haben in keiner Weise die bei der Systemumstellung angewandten Transfervorschriften insgesamt einer kritischen Überprüfung unterzogen, sondern die getroffenen Vereinbarungen lediglich auf geringfügige Veränderungen reduziert.

Tatsächlich hat die Anwendung des bei der Systemumstellung angewandten sogenannten Näherungsverfahrens zu gänzlich willkürlichen Kürzungen der erdienten Rentenanwartschaften der Versicherten geführt. Es kam zu Kürzungen im Regelfall zwischen 30 und 50 %, in Einzelfällen auch darüber hinaus bis zu einer  Höhe von 80 %.

Zu diesen Willkürlichkeiten  ist keinerlei Korrektur erfolgt, obwohl der Bundesgerichtshof im Pilotverfahren vom 14.11.2007 im Hinblick auf die aufzunehmenden weiteren Verhandlungen der Tarifparteien ausgeführt hatte:

 „In diesem Zusammenhang haben die Tarifparteien zugleich Gelegenheit, die Ausführungen der ausschließlichen Anwendung des Näherungsverfahrens erneut zu bedenken“.

Dieser nicht zu überlesende Hinweis des Bundesgerichtshofs wurde von den Tarifparteien zur Seite gewischt.

b. Fortsetzung des verfassungswidrigen Eingriff in die geschützten Eigentumsrechte der Versicherten

Damit setzt sich unseres Erachtens der verfassungswidrige Eingriff in die geschützten Eigentumsrechte der Versicherten fort.

Die von unserer Rechtsanwaltssozietät hierzu geführten anhängigen Beschwerden vor dem  Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg werden somit fortgeführt.

c. Fortsetzung des verfassungswidrigen Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot

Auch der verfassungswidrige Verstoß gegen das Gleichheitsgebot setzt sich unseres Erachtens fort.

Die Tarifparteien haben lediglich für eine Personengruppe (für rentenfern Versicherte mit langen Vorzeiten) eine ergänzende – höchst komplexe – neue Berechnungsform vereinbart, die noch gesondert darzulegen sein wird.

Vorab sei angemerkt, dass nach vorläufiger Betrachtung maximal 15 % der 1,7 Millionen rentenfern Versicherten mit einem geringfügigen Zuschlag auf die Startgutschrift in Höhe von etwa € 20,00 rechnen können.

Die Erhöhung erweist sich indessen nicht nur als gänzlich sozial unausgewogen. Sie beinhaltet vielmehr durch die Gruppenbildung neue Willkürlichkeiten, die wiederunm einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 GG beinhalten.

Beispielhaft sei vorab ausgeführt:

  • Alle rentenfern Versicherte, die bis zum vollendeten 25. Lebensjahr in den öffentlichen Dienst eingetreten sind, erhalten keinen Zuschlag. Darunter sind zum Beispiel auch Akademiker, die also weiterhin überproportional benachteiligt sind, obwohl der BGH gerade dies ausschließen wollte.
  • Jüngere rentenfern Versicherte ab dem Jahrgang 1961 bekommen ebenfalls grundsätzlich keinen Zuschlag, auch wenn sie längere Ausbildungszeiten nachweisen können und auf weniger als 40 erreichbare Pflichtversicherungsjahre kommen.
  • Rentenfern Versicherte der Jahrgänge 1947 bis 1960 sind in jedem sechsten Fall von einem Zuschlag ausgeschlossen - trotz längerer Ausbildungszeit und weniger als 40 erreichbaren Pflichtversicherungsjahren. Dazu zählen insbesondere die Jahrgänge 1956 bis 1960, falls nur wenige Pflichtversicherungsjahre bis Ende 2001 tatsächlich erreicht wurden.
  • Am 31.12.2001 alleinstehende, ältere rentenfern Versicherte bekommen in den meisten Fällen trotz eines Zuschlags auf den alten Formelbetrag nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 BetrAVG keinen Zuschlag auf ihre alte Startgutschrift, da der neue Formelbetrag weiterhin unter dem Mindestwert nach § 18 Abs. 2
    Nr. 4 BetrAVG bleibt.
  • Verheiratete Spitzenverdiener mit längeren Ausbildungszeiten und sehr wenig Pflichtversicherungsjahren (z.B. Eintritt in den öffentlichen Dienst erst mit 45 Jahren) erhalten die höchsten Zuschläge bis zu 40 % auf ihre bisherige Startgutschrift.

Die Reduzierung der Neuregelung auf eine kleine Personengruppe führt zudem zu dem gänzlich abwegigen Ergebnis, dass nunmehr Versicherte, die gezielt spät in die Zusatzversorgung eintreten, gegenüber bei der Zusatzversorgungskasse langfristig Versicherten privilegiert werden.

Dies alles beinhaltet unseres Erachtens einen erneuten Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot nach Art. 3 GG.

4.
Die Redaktion der neuerlichen Tarifvertragsrechte – 5. Änderungsvertrag zum Altersvorsorge-TV – ist noch nicht abgeschlossen. Für die Tarifparteien läuft noch eine Erklärungsfrist bis 31.07.2011.

Auch die Umsetzung in die jeweiligen Satzungen der Zusatzversorgungskassen wird erfahrungsgemäß nochmals einen erheblichen Zeitraum (voraussichtlich 4-6 Monate) benötigen.

Wir werden Sie ergänzend  über die getroffenen Vereinbarungen und über die Möglichkeiten, Ihre Rechte zu wahren, informieren.

Mit freundlichen Grüßen 

Rechtsanwälte Valentin Heckert, Harriet Schäfer-Heckert,
Wolfgang Klohe, Evelyn Wettstein, Joachim Städter
 
durch: Rechtsanwalt Valentin Heckert 
 
Kanzlei Rechtsanwälte Heckert & Kollegen
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